Der aus Rottweil stammende Valerius Anshelm (1475–1547) studierte an den Universitäten Krakau und Tübingen und in Lyon (u.a. Medizin), wurde 1505 als Rektor an die Lateinschule von Bern berufen und erhielt 1508 das Amt eines bernischen Stadtarztes. Nach 1510 verfasste er ein lateinisches Kompendium der Weltgeschichte, das 1540 bei Apiarius in Bern gedruckt wurde. 1520 beauftrage der Rat Anshelm, die Berner Stadtchronik fortzusetzen; aus unbekannten Gründen kam das Projekt aber nicht zur Ausführung. Anshelm zählte zu den frühen Anhängern Luthers und war mit Zwingli, Vadian und Berchtold Haller befreundet. Konfessioneller Differenzen wegen zog sich Anshelm mit seiner Familie 1525 nach Rottweil zurück und kehrte erst 1529, nach der Einführung der Reformation, nach Bern zurück. Hier erhielt er vom Rat den Auftrag, die amtliche Stadtchronik bis in die Gegenwart fortzusetzen.
Seine 1529–1546 entstandene, in humanistischer Tradition annalistisch strukturierte Berner Chronik stellt, nach einer ausführlichen Einleitung und «Besserungen» der bernischen Frühgeschichte und der Burgunderkriege, vor allem die Zeitgeschichte von 1477–1536 dar. Der Text zu den Jahren 1526–1536 ist nur fragmentarisch erhalten. Anshelm stützt sich in seiner Chronik in grossem Umfange auf amtliche Dokumente und auf Augenzeugenberichte; seine Darstellung besticht durch einen weiten Horizont und klare Urteile. In seiner betont protestantischen Weltsicht wendet sich Anshelm vehement gegen die Reisläuferei und das Pensionenwesen und fordert eine Reformation in allen Lebensbereichen. Auf die aussergewöhnlichen Qualitäten der Chronik hat bereits Leopold von Ranke hingewiesen.
Urs M. Zahnd